Hász-Fehér Katalin

Der Ossianismus als Quelle des Programms des "nationalen Sentimentalismus"

Dieser Beitrag, ein Theil einer größeren Studie, behandelt die ungarische Rezeptionsgeschichte von Ossian-Dichtungen des 18–19. Jahrhunderts. Als Musterbilder für den ungarischen Ossianismus dienten vor allem deutsche Übersetzungen und Bearbeitungen von Denis, Harold, Petersen und Ahlwardt. Das wurde in wirkungs- und entstehungsgeschichtlichen Untersuchungen seit dem vorigen Jahrhundert eingehend bearbeitet. Die ungarische Literaturgeschichtsschreibung hat jedoch die Vielschichtigkeit der heimischen Rezeption wenig berücksichtigt: der Ossianismus diente nämlich als Modell für verschiedene – oft völlig gegensätzliche – literarisch-kulturelle Programme, Strömungen.

Die jetzige Arbeit hat jene Autoren zum Gegenstand, die im Ossianismus die Möglichkeit einer Synthese des Nationalbewusstseins des ungarischen Adels, der historischen Tradition und des modernen europäischen Sentimentalismus sahen. Eines der repräsentativsten Werke dieser Bewegung ist das Buch von Sándor Kisfaludy  Sagen der ungarischen Vorzeit. Das 1807 erschienene Werk enthält drei Sagen – Liebesgeschichten – eingefügt in ein historisches Milieu. Die Literaturgeschichte hat diese Sagen aufgrund der Ähnlichkeit des Titels mit der Erzählprosa von Veit Weber (Sagen der Vorzeit) vergliechen. Die narrative Analyse und die Untersuchung der Autorintention zeigt jedoch die Priorität der ossianischen Wirkung. Das Werk von Sándor Kisfaludy knüpft sich eben durch seinen Ossianismus an jene ungarischen literarischen Programme an, die den auf individuellen Gefühlen basierenden europäischen Sentimentalismus durch Ausarbeitung literarischer Formen und Diskurse eines kollektivnationale Empfindlichkeit abzulösen suchen.